Vorstellungsgespräche und Museumsvolontariat mit Behinderung – Ein Erfahrungsbericht
von Iris Haist
„Füße, wofür brauche ich euch, wenn ich Flügel habe, um zu fliegen?“ (Frida Kahlo)
„Ataxie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet Unordnung
Nachdem ich Ende des Jahres 2011 die Diagnose Friedreich-Ataxie – eine Erkrankung, bei der die kurzbahnigen Nervenstränge immer wieder ausfallen – bekommen hatte, änderte sich vieles für mich. Als durchaus positiv empfand ich vor allem, dass ich nun endlich ernst genommen wurde, nachdem ich in meiner Jugend und während meines Kunstgeschichtestudiums immer die Schusselige war, die wirklich über jedes Sandkorn stolpern musste. Ärztliche Empfehlungen wie: „Gehen Sie häufiger in die frische Luft und machen Sie mehr Sport“ bekam ich von da an nicht mehr zu hören.
Direkt nach den für die Diagnose notwendigen Untersuchungen und Krankenhausaufenthalten zog ich mit einem Stipendium nach Rom und beendete meine Dissertation über den römischen Barockbildhauer Pietro Bracci. Die Krankheit sollte mich nicht von meinem Weg und meinen Wünschen abbringen. Ich kam dank meiner Familie und Freunde gut damit klar – bis die Vorstellungsgespräche für das Volontariat begannen.
Es ist nie leicht, sich vor all diese fremden, oft erst einmal streng dreinschauenden Damen und Herren zu stellen und sich und seine Stärken zu verkaufen. Doch es wird noch schwerer, wenn man versucht, etwas zu verstecken bzw. zu verheimlichen.
Treppenansicht im Museu Nacional do Azulejo, Lissabon; Foto: Iris Haist
„Hoffentlich falle ich nicht über den Stuhl…“
Die Fahrt zu meinem ersten Vorstellungsgespräch ging ich optimistisch an. Hatte ich doch schon so einiges erreicht und war nun von meinem zweieinhalbjährigen Italienaufenthalt extra für dieses Gespräch eine Woche früher zurückgeflogen. Das Gefühl, dass alles nur positiv verlaufen könne, änderte sich schlagartig, als ich erkannte, wie weit der Weg vom Besucherparkplatz bis zum Museum war. Die herrliche Lage des Gebäudes mitten in einem Park auf einer Anhöhe wurde für mich zum ersten Problem und ließ mich zweifeln, dass ich diesen Weg jeden Tag bewältigen könne. Und schon hatte meine positive Grundeinstellung Kratzer bekommen. Zum Glück war ich früh dran und konnte mich erst einmal auf einer Mauer ausruhen.
Doch dann kamen die nächsten Hürden: langgezogene Treppenstufen aus schönem rotem Sandstein am Eingang – leicht uneben und ohne Handlauf. Meine Analyse der Lage: Begrenzt wird die Treppe von großen Steinquadern, an denen man sich eventuell entlanghangeln könnte. Dazu der Gedanke: „Aber was ist, wenn mein zukünftiger Chef sieht, wie unbeholfen ich die Stufen erklimme? Was wird er dann von mir denken?“
Wenige können sich vorstellen, was mit dem eigenen Selbstbewusstsein passiert, wenn man sich verstohlen umschauen muss, bevor man hoffentlich unentdeckt das Gebäude betritt, in dem gleich über die Zukunft für die nächsten zwei Jahre entschieden werden soll. Dementsprechend war ich im Gespräch das reinste Nervenbündel und hatte Gedanken wie: „Bloß kein Wasser annehmen, du könntest es verschütten“ und „Hoffentlich falle ich beim Aufstehen oder beim Hinausgehen nicht über den Stuhl…“
„Entweder sie nehmen mich wie ich bin oder es sollte eben nicht sein. Basta.“
Doch dieser Versuch, meine teils sehr uneleganten motorischen Aussetzer verbergen zu wollen, kostete mich all meine Kraft. Die Betonung meiner Erfahrung, meiner Praktika, Ehrenämter und meiner Leidenschaft für die Kunst traten in den Hintergrund – bis ich irgendwann nicht mehr konnte. Ich war von Gespräch zu Gespräch nicht routinierter, sondern immer nervöser geworden.
Dann kam die Einladung zum Vorstellungsgespräch für ein Wissenschaftliches Volontariat in der Staatsgalerie Stuttgart und ich sagte mir: „Das tue ich mir nicht mehr an. Ich packe alles ganz ehrlich auf den Tisch. Entweder sie nehmen mich wie ich bin oder es sollte eben nicht sein. Basta.“ Das Resultat dieser für mich schwierigen Entscheidung war, dass ich schon vor dem Gespräch deutlich entspannter war als sonst. Auch, weil ich mit den schlimmsten aller möglichen Reaktionen gerechnet habe. Doch es kam ganz anders: Es war das beste Vorstellungsgespräch, das ich bis dahin erlebt habe und der Erfolg gab mir Recht.
„Wenn Sie eine Ballerina suchen, müssen Sie jemanden anderen nehmen…“
Mit der Entscheidung, meine Krankheit ganz offen anzusprechen, hatte sich an der Oberfläche nichts geändert: Meine Leistungen, mein Charakter, meine Stärken und meine Schwächen waren dieselben geblieben – und doch war einfach alles anders. Für mich. Nicht für sie.
Ich hatte keine Angst mehr, vor den Leuten zu gehen, die mich abholten, keine Angst mehr, das angebotene Wasser oder einen Kaffee anzunehmen und keine Angst mehr, über den Stuhl zu fallen. Mein Kopf war klar wie nie und meine Stimmung so gut, dass ich sogar auf kleine Witzchen mit den anwesenden Kuratoren eingehen konnte. An geeigneter Stelle sagte ich, ich wolle ganz offen sein und legte meine Behinderung offen dar. Was sollte auch passieren, ich bin schließlich Kunsthistorikerin, keine Dachdeckerin – für meine Arbeit brauche ich die Beine eher selten.
Auf die Frage, wie sich das genau auswirke, habe ich geantwortet: „Durch den wiederkehrenden Ausfall der kurzbahnigen Nervenstränge schwanke ich häufig beim Gehen. Das sieht nicht besonders elegant aus. Wenn Sie eine Ballerina suchen, müssen Sie jemanden anderen nehmen…“ Humor war für mich schon immer die beste Möglichkeit, meine Krankheit zu verarbeiten.
Die Frage, ob ich denn in der Lage sei, die teilweise sehr schweren Kästen mit Kunst auf Papier in der Grafischen Sammlung aus dem Regal zu heben und sie auf die Arbeitstische zu legen, musste ich nicht beantworten. Die Direktorin der Staatsgalerie, Frau Prof. Lange sagte an meiner Stelle: „Es ist wohl eher eine Gehbeeinträchtigung“, was ich durch ein Nicken bestätigte. In dem Moment fühlte ich mich richtig verstanden und das erste Mal seit Beginn der Vorstellungsgespräche richtig frei. In dieser Unterhaltung mit vier Wissenschaftlern der Staatsgalerie war ich plötzlich nicht mehr fehl am Platz. Ich konnte mich viel besser auf die folgenden Fragen konzentrieren.
Iris mit Ludwig; Foto: Pia Littmann
Und dann kam „Ludwig“
Tatsächlich hat sich in der praktischen Arbeit gezeigt, dass ich nicht stark genug bin, um besagte Grafikkisten zu tragen und nicht sicher genug auf den Beinen, um damit zu gehen. Doch konnte ich dennoch im Magazin arbeiten? Natürlich konnte ich das.
Neben unserem Magazinverwalter fanden sich zahlreiche Kollegen und Kolleginnen, die mir immer gerne zu Hilfe kamen. Zudem konnte der technische Fortschritt einiges zu meiner Autonomie beitragen: Mittlerweile wurde „Ludwig“ angeschafft – ein Gerät, das auf Knopfdruck in die richtige Höhe fährt und mit dem jeder Mitarbeiter schwere Kisten transportieren kann, auch die kleinen und weniger starken Kollegen.
In diesem Fall waren schon zuvor Stimmen für eine solche Hilfe laut geworden. In anderen Fällen muss man selbst immer wieder auf Inklusionslücken aufmerksam machen. Das ist von den Verantwortlichen nicht böse gemeint, es fällt ihnen oft einfach nicht auf. Eine Schwelle oder eine Treppe ohne Handlauf nimmt man meist erst dann wahr, wenn man sie aus einem bestimmten Grund nicht problemlos überwinden kann. Keiner wird es uns übelnehmen – im Gegenteil.
Lasst euch nie von euren Beeinträchtigungen ausbremsen, sondern trickst sie aus. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – während des Volontariats und auch danach.
Text erstmals veröffentlicht am 12.10.2016 auf https://museumsvolos.worddpress.com - Das Blog für Volontärinnen und Volontäre in Baden-Württemberg und Deutschland
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Anna Genger (Montag, 19 März 2018 08:26)
Du bringst mich zum Lachen und gleichzeitig bricht es mir das Herz. Ein wichtiger Text einer wichtigen Frau!