Iris Haist und Pia Littmann
Iris: Hey Pia! Eben sind mir wieder Fotos von meinem letzten Barcelona-Urlaub in die Hände gefallen. Ich war dort in der Casa Batlló, einem Gaudí-Gebäude. Dort gab es einen Multimediaguide mit einem Augmented Reality-Feature: Man konnte auf dem Display die ehemalige Einrichtung in den heute leeren Räumen sehen und so die Stimmung nachfühlen, während man sich über Kopfhörer die Baugeschichte anhören konnte. Denkst Du, so etwas wäre auch auf Kunstmuseen anwendbar?
BesucherInnen mit Multimediaguides in der Casa Batlló, Barcelona
Pia: Moin Iris, gute Frage! Augmented Reality … Man stelle sich einmal vor, dass einem bei der kommenden Meister von Meßkirch-Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart plötzlich der Lokalheilige XY freundlich aus dem Bild zuwinkt. Funktioniert das so? Oder ist das zu klamaukig gedacht?
Iris: Na ja, man könnte den Heiligen Eustachius schon winken lassen ... Aber man könnte vor der Tafel zum Beispiel auch die Geschichte des Heiligen wie einen Film abspielen lassen, den Hirsch mit der Erscheinung des leuchtenden Kruzifixes einblenden oder Jacopo da Voragine, den Autor der Legenda Aurea, hervortreten lassen und die passenden Zeilen aus seinem Buch vorlesen lassen. Es ist also nicht mit der Animation der Bildelemente ausgeschöpft. Das hat Eventcharakter und würde sicher neue Besuchergruppen anlocken. Ich finde diese Technologie unglaublich spannend, aber ich frage mich, ob es den Wert der originalen Kunstwerke in den Augen der neuen Zielgruppen schmälern würde ...
Kupferstich mit dem Hl. Eustachius und Leonardos da Vincis Mona Lisa nach der Verfremdung durch die neuen Fotobearbeitungsapps MSQRD und Snappy Photo Editor
Pia: Du meinst, weil das Angebot so „niedrigschwellig“ und insbesondere jüngeren Leuten vielleicht auch aus anderen, weniger bildungsnahen Kontexten vertraut ist – wird darüber das Werk dann nicht genügend ernst genommen?
Iris: Nein. Barrieren abbauen bei der Vermittlung finde ich eher gut und auch wichtig. Aber wenn man das Gemälde plötzlich als Video oder als Film wahrnimmt, die Malweise und den Farbauftrag nur noch durch den Display wahrnimmt, kommt der Betrachter nicht zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass man dieselbe Erfahrung auch im Kino oder mit einer Augmented Reality App vor einem Kunstdruck machen könnte? Nimmt diese Art der Vermittlung den Bildern den „Vorteil des Originals“?
Pia: Hhhmm, Du kannst Fragen stellen ... Kennst Du die Webseite „Closer to van Eyck“? Dort kommt man dem „Genter Altar“ der Brüder Hubert und Jan
van Eyck mit seinen zahlreichen Tafeln extrem nahe, so nahe, dass man förmlich in den Bildern badet. Will sagen: Die Digitalisierung eröffnet auch ganz neue Möglichkeiten der Nähe, für Forscher,
Interessierte und Kunstgenießer ... Ein ganz praktischer Vorzug der analogen Begegnung, jetzt beziehe ich mich auf ein Seminar meines Doktorvaters, ist dagegen die Einschätzung der tatsächlichen
Größe der Bilder: Wie groß oder wie klein ein Bild wirklich ist, kannst Du – Maßangaben in der Bildunterschrift hin-
oder her – am besten erfahren, wenn Du davor stehst – und manchmal echt überrascht wirst!
Stark vergrößerter Ausschnitt des Lamms aus der "Anbetung des Lamm Gottes", untere Mitteltafel des Genter Altars im geöffneten Zustand. Bildquelle: Closer to Van Eyck: Rediscovering the Ghent Altarpiece, http://legacy.closertovaneyck.be/#home/sub=open
Iris: Nein, die Website kannte ich tatsächlich noch nicht. Klasse! Und ja, in diesem Fall stimme ich Dir und Deinem Doktorvater voll und ganz zu. Eine solche digitale Zugriffsart ist kein Ersatz für die Originale. Aber eine sinnvolle und spannende Ergänzung.
Pia: Welche Erfahrungen hast Du damit noch gemacht?
Iris: Wenn das Ganze nun aber quasi über das Original geblendet wird, geht man dann tatsächlich nach Abspielen der digitalen Features nochmal sehenden Auges auf das Exponat zu? Erinnerst Du Dich an die Ausstellung OMG! - Objekt mit Geschichte im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe? Da konnte man durch das Handy je einen der Volontäre neben den Vasen, Gemälden oder anderen Ausstellungsstücken stehen sehen und sich die entsprechende Geschichte von ihnen erzählen lassen. Ich war fasziniert davon! Ich habe mir aber nach der Erklärung die Vase zum Beispiel nicht nochmal genauer angeschaut. Das muss ich leider zugeben. Vielleicht hätte man das getan, wenn die virtuellen Menschen eine Frage zum Objekt gestellt hätten ...
Pia: Haha, das wäre vielleicht eine gute Idee gewesen. Ich war nämlich selber so fasziniert von diesen „Genie-in-a-Bottle“-Guides, dass ich vor lauter Schreck die Vasen fast vergessen habe. Ich denke, die Herausforderung ist es, Beziehungen zwischen Wahrnehmungsebenen, herzustellen über deren Zusammenwirken wir vieles vielleicht noch gar nicht genau wissen. Das macht die Sache natürlich spannend, so wie Du meintest ... Mein Besuch neulich in der Ausstellung „Alexander Kluge. Gärten der Kooperation“ im Württembergischen Kunstverein war in Sachen Einsatz (visueller) digitaler Medien ein echter Augenöffner.
Ich muss zwar sagen: Wir betraten nicht die dritte Dimension. Dafür wurden zum Beispiel ultramoderne Beamer auf Plexiglasscheiben eingesetzt, die völlig gleichrangig zusammen mit „analogen“ Dokumenten gezeigt wurden. Die Modernität der digitalen Medien „färbte“ dabei auf die alten Buchseiten und anderen Dokumente aus Papier ab, die ebenfalls Teil, und wichtiger Teil, der Ausstellung waren und ließ sie in besonderem Maße aktuell erscheinen. Umgekehrt verliehen die Buchseiten und alten Broschüren den ultra-schick inszenierten Interviews und Filmen „Credibilty", besondere Glaubwürdigkeit. Das war schon interessant …
Ausstellungsansichten "Alexander Kluge. Gärten der Kooperation", Württembergischer Kunstverein, Stuttgart. Linkes Foto vorne: Insel "Die poetische Kraft der Theorie: 'Hirnhäuslein'", hinten: Insel "Kälte ist die Kette Gottes"; rechtes Foto: Insel "Gärten der Kooperation", 2017, Foto: Sven Baum
Iris: Ja, genau. Das klingt nach einem guten Weg. Ich sehe auch gerade, dass die Kluge-Ausstellung noch bis zum 14.1.2018 läuft. Die muss ich mir also unbedingt noch anschauen!
Pia: Da komme ich gerne nochmal mit, als ich da war, lief das Video „Zootiere im Bombenkrieg“ irgendwie nicht (und darauf war ich sehr gespannt gewesen) – übrigens ein klarer Vorteil der analogen Präsentation: Was hängt, das hängt! Und was steht, das steht!
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