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documenta! Ansichten eines Zauns

Pia Littmann

 

Neulich bin ich zur documenta 14 nach Kassel gefahren (8. April – 16. Juli 2017, Athen; 10. Juni 2017 – 17. September, Kassel; http://www.documenta14.de/de/) und habe mich dort etwas umgesehen.

 

 

Ich wählte das Nächstliegende und betrat den Parcours durch den Baucontainer direkt vor dem Bahnhof (der heute nur noch überirdisch und für den Nahverkehr genutzt wird). So gelangte ich in den „eigentlichen“, 1968 eröffneten Hauptbahnhof, der inzwischen stillgelegt ist. Umgeben vom Charme verlassener Gleise und verjährter Plakate memorierte ich: 1968 fand auch eine documenta statt, die vierte. Es war die letzte Weltkunstschau, die Arnold Bode, selbst Künstler und Kunstlehrer, verantwortete oder jedenfalls mitverantwortete.

 

 

 

Die erste Schau, die auf Initiative von Bode 1955 im zerbombten Kassel veranstaltet wurde, trug den programmatischen Titel „Kunst des XX. Jahrhunderts. Internationale Ausstellung“. Es galt, die durch die NS-Zeit und den Krieg versäumten Jahre nachzuholen – und zwar wenn schon, denn schon. Parallel zur Bundesgartenschau zeigte die sehr erfolgreiche Ausstellung vor allem abstrakte Kunst aus den USA.

 

Heute schaut man nicht so sehr über den Großen Teich, sondern mehr ans Mittelmeer und die Ägäis. Das Motto der 14. Weltkunstschau lautet „Von Athen lernen“ und die schräg guckende Eule ist ihr Begleiter.

 

 


Kritikpunkte an dieser documenta, die sich erstmals auf zwei gleichberechtigte, sich in ihrer Laufzeit teilweise überlappende, Standorte verteilt, lauten: Zu wenig Form, zu viel Inhalt, zu viel Gleichmacherei: „Wen interessieren noch die alten Fragen der Kunst nach formaler Raffinesse, kompositorischer Spannung oder erfindungsreicher Ikonographie?", fragt Hanno Rauterberg in der „Zeit".

 

Solche markigen Sprüche gehören natürlich dazu. Genauso wie der Streit um Form und Inhalt. 1982 richtete sich Rudi Fuchs, künstlerischer Leiter der 8. documenta, mit seinem Programm dezidiert gegen die vorherige Schau (die ihrerseits ein bisschen „inhaltlicher“ als die vorherige war). Denn die 1977 präsentierte documenta war der „Idee der medienkritischen 70er“ verpflichtet und zeigte viel Bruce Naumann und auch Rainer Werner Fassbinder. Fuchs, der niederländische Kunsthistoriker, sprach dagegen von einer „gemessen dahingleitenden Regatta“ und wollte mit seiner Schau „der Würde der Kunst“ gerecht werden.

 

Das war ein ambitioniertes Anliegen und heute ist es nicht weniger ehrgeizig. In „South as a State of Mind“, das temporär als documenta-Magazin genutzt wird und Themen und Positionen vorbereiten und schärfen soll, heißt es in diesem Sinne: „Ebenso hoffen wir, dass diese zweite Ausgabe des South-Magazins der documenta 14 dem Anspruch gerecht wird, sich der Wirklichkeit zu stellen – ohne in die Falle der unmittelbaren Repräsentation zu tappen, […].“

 

Gelungen, so befand ich auf meinem Streifzug, war das in Olaf Holzapfels Projekt „Zaun“, das (unter anderem) die erste Etage des Palais Bellevue füllte. Übrigens ist selbiges schon eine Attraktion für sich: 1714 als Sternwarte errichtet, ist das strenge, fast quadratische Haus eines der wenigen Kassler Gebäude, das bis heute fast vollständig erhalten ist. Darin präsentiert Holzapfel, der 1967 in Dresden geboren und dort aufgewachsen ist, das Thema Raum, Umwelt und deren Aneignung frisch und fröhlich als ein sowohl-als-auch. Denn Zaun, erinnert uns Holzapfel im Gespräch mit Dieter Roelstraete, bedeutet etymologisch eher die Markierung in der Landschaft als eine Grenze im eigentlichen Sinn. Linien denkt sich der Künstler eher verbindend als trennend. Und Grenzlinien sind für Holzapfel folglich – quasi in erster Linie – Zonen des Übergangs.

 

Zum Warmwerden bringt er Arbeiten von Kristian Sotriffer und Dieter Wieland. Der unverwechselbare Wieland, der sich kritisch mit dem Stadt- und Landschaftsbau in der DDR auseinandersetzte, moderne Zäune schon mal als „verzinkter Theaterdonner“ beschimpfte und feststellte, dass „Maschendraht immer schon etwas Pessimistisches in die Landschaft“ brächte. (seine teilweise online verfügbare „Topographie“-Dokumentarfilmreihe ist sehr sehenswert!). Im folgenden Raum präsentiert Holzapfel historische Fachwerkmodelle, zum Beispiel die elegante Silhouette einer Wassersäulenmaschine aus dem Jahr 1884, zusammen mit von ihm selbst in dieser Bauweise gefertigten Konstruktionen. Draußen auf der Karlsaue stieß ich später auf dieses Gebilde:

 

Olaf Holzapfel, Trassen (in der Kasseler Karlsaue), 2017, bemaltes Holz, Karlsaue, Kassel, documenta 14, Foto: Mathias Völzke

 

Die Fachwerk-Bauweise lässt für Holzapfel soweit keine Wünsche offen: Der Naturstoff, das Holz, prägt aufgrund seiner Festigkeit und Größe die Beschaffenheit des Hauses, der Maschine oder eben des Modells. Besonders anziehend: Es sind Stäbe – Linien –, die in den Raum greifen, ihn scheiden, ihn aber zugleich auch gestalten und neue Bezüge herstellen. Dabei ist das Ganze offen, transparent und bleibt in seiner Konstruktion sichtbar. Das ungefüllte Fachwerk, das sich nicht zum Haus fügt, erscheint zweckfrei, offen – und ist vielleicht gerade deshalb der  umgebenden Natur so nahe.

 

Anschließend ging ich in die Neue Galerie gegenüber. Bevor ich den „Hauptsitz des Geschichtsbewusstseins“ mit Schlegel, Winckelmann und Dimitris Pikionis im 1. Stock erklimmen wollte, interessierte mich, was es unten zu sehen gab. Allzu weit kam ich nicht, denn im Raum mit den „Ökosex“-Arbeiten von Annie Springkle war der Andrang schon ziemlich groß. Von weitem sah ich eine Fotoserie beeindruckender Brüste und noch weitaus plakativeres Bildmaterial. Nicht mehr schockierend, aber auf eine irgendwie altmodische Weise durchaus grenzüberschreitend – das müsste ich mir später noch genauer ansehen. Doch erstmal drehte ich ab und ging zurück zum Friedrichsplatz, um dort ʾne Pause zu machen. Ich sah: Nur Zäune und Linien, wundersam verbunden! Und über allem puffte weißer Nebel aus dem Zwehrenturm.

 

 

 

Fotos © documenta, Pia Littmann

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