Iris Haist
Das Bahnprojekt Stuttgart 21 wird aus dem bisherigen Kopfbahnhof der schwäbischen Landeshauptstadt einen unterirdischen Durchgangsbahnhof machen und damit die möglichen Verbindungen verbessern und für eine Verkürzung der Fahrtzeiten sorgen. Mann beginnt also abzureißen, zu graben und zu bauen. So weit, so gut - oder nicht?
Aller Anfang ist schwer...
Baubeginn war vor sieben Jahren, 2019 sollte der Bahnhof stehen. Doch vermutlich dachte man sich: Warum soll die Zahl 21 nur für das aktuelle Jahrhundert stehen und nicht auch für das Jahr der Fertigstellung? So kann man es sich auch besser merken.
Vor einem Jahr bin ich umgezogen. Warum ich euch das an dieser Stelle erzähle? Weil die Wohnung eine Besonderheit hat: Ich habe aus dem 4. Stock eines Hauses am Rande besagter Baustelle einen exklusiven Panoramablick über das Geschehen. Wohnen in Stuttgart - mittendrin statt nur dabei!
Zu Beginn war ich nicht sehr angetan davon, jeden Tag auf Betonfundamente, Bagger und Bauarbeiter schauen zu müssen und auf die Autos, die täglich die B14 rauf und runter fahren. Doch schnell begann ich vor allem die unverbaute Weite des Ausblicks zu genießen und das Treiben auf der Baustelle als unterhaltsam und fast schon als beruhigend zu empfinden.
Wie eine stürmische Affäre
Die Bereiche, in denen gearbeitet wird, verändern sich schnell, immer wieder entstehen neue Baugruben, werden neue Kräne oder Gerüste aufgebaut. Es ist tatsächlich, wie ein befreundeter Künstler immer wieder sagt: Durch Baustellen wird das betroffene Viertel irgendwie lebendig - zwar laut und staubig, aber lebendig -, pulsierend und es entwickelt sich ein Eigenleben, das faszinieren kann.
Versteht mich nicht falsch: Ich wollte nicht immer inmitten einer solchen Situation leben. Es ist eher wie eine stürmische Affäre mit einem jungen, attraktiven aber für ein glückliches Leben völlig ungeeigneten Mann. Man genießt es, so lange es gut geht, um es dann irgendwann satt zu sein und eine gesunde Beziehung anzustreben.
Romantik und Kapitalismus
Sehr zu meiner veränderten und weitgehend ästhetisierten Wahrnehmung beigetragen hat mein Lebenspartner Christian. In seinen Armen habe ich die romantische Stimmung gespürt, die von den in die Abenddämmerung getauchten Zäunen und Stahlträgern ausgeht - oder von den Lichtern bei Nacht.
Zur letztgenannten Tageszeit stört mich lediglich der hell leuchtende, immerzu Pirouetten vollführende Mercedes-Stern auf dem alten Bahnhofsturm. Dieser Stern ist schon zu einem ganz selbstverständlichen Bestandteil Stuttgarts geworden. Dass wir darin oft nicht mehr das Logo der Automarke und damit ein Symbol des Konsums und des Kapitalismus sehen, ist meiner Meinung nach bedenklich.
Bin ich nun gegen diese große, teure Baustelle, für die ein Teil des alten Gebäudes weichen musste? Vielleicht wäre ich es, wenn es heute erst zur Abstimmung über einen Baubeginn käme. Doch Stuttgart 21 ist hier und man kann sich nun entscheiden, ob man sich täglich ärgert oder das Gegebene mit anderen zu sehen versucht.
Eine Frage der Perspektive
Christian hat vor einiger Zeit mit dem Fotografieren begonnen. Sein Lieblingsmotiv ist - ihr werdet es euch denken können - die Baustelle vor unserem Haus. Manchmal steht er stundenlang am Fenster oder geht auf Fotosafari durch den Dschungel von Maschinen und Verbotsschildern.
Verstehen konnte ich ihn erst, als ich seine Fotos gesehen habe. Sie zeigen Türen, die völlig unmotiviert und verlassen auf dem Gelände stehen, monumentale Bohrköpfe und Stahlträger, die für mich mittlerweile Symbole für die Unmöglichkeit der Ewigkeit geworden sind, und - sehr eindrücklich - eine weggeworfene Parkscheibe, die verkündet: Es ist 5 vor 12, Leute! Die Baustelle - ihre Schauplätze und sogar ihre zerstörten Abfallprodukte - erfährt so eine ganz neue und eigene Ästhetik und beinahe schon ikonografische Aufladung.
Auch, wenn es nicht immer leicht ist: Wir bestimmen die Perspektive selbst, aus der wir uns und unsere Umwelt sehen und beurteilen.
Literaturempfehlung in eigener Sache:
Haist, Iris und Pia Littmann (Hrsg.): Zeit Stadt Wert - Werke von Erik Sturm im Hospitalhof, Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen, 2016.
https://www.amazon.de/Zeit-Stadt-Wert-Werke-Sturm/dp/3803033837
Impressionen
Alle Fotos in diesem Beitrag © Christian Schmid
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